Das Abitur bezeichnet den höchsten Schulabschluss in
Deutschland und damit die allgemeine Hochschulreife. Der Begriff Abitur stammt vom lateinischen ab-ire und bedeutet "davon gehen". Tatsächlich hat dieser Moment in Ihrem Leben etwas mit „Weggehen“ zu tun.
Um das Ganze aber etwas positiver zu umschreiben und nicht
unbedingt mit einem Abschied zu verbinden, sagen wir vielleicht besser:
Sie bewegen sich nun auf einen neuen Lebensabschnitt zu und sind mit Ihrem Abschluss „reif“ für neue Herausforderungen der
Zukunft.
„Ihnen steht die Welt offen und es liegt nun an Ihnen, was
Sie daraus machen.“ Dies ist eine klassische Aussage bei Schulentlassfeiern.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten war die Perspektive für
erfolgreiche Abiturienten eine Welt, die durch Internationalisierung, durch
Globalisierung, durch eine Politik der Zusammenarbeit, durch die Schaffung
neuer Möglichkeiten, durch Abbau von Grenzen gekennzeichnet.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten war die Perspektive für
junge Menschen gekennzeichnet durch die Werte, die uns in der Europäischen
Union verbinden: die Würde des Menschen, Freiheit, Demokratie, Recht,
Versöhnung und Solidarität. Wie es der ehemalige EU-Parlamentspräsident Hans-Gert
Pöttering und der ehem. östereichischen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel gemeinsam
in einem Aufsatz unter dem Titel „ Jammern über Europa“ festgestellt haben.
Findet diese Entwicklung vor dem Hintergrund der heute
stattfindenden Brexit-Abstimmung in Großbritannien, einer Stärkung
von rechtsnationalen Parteien in vielen Staaten Europas, einer hasserfüllten
Sprache der Herabwürdigung von demokratischen Institutionen und Politikern ein
jähes Ende?
Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, Sie haben das
Zeugnis der Reife am Heriburg-Gymnasium
erlangt, an der Coesfelder Schule, die sich Europa-Schule nennt.
Sie wissen, den Titel „Europaschule“ dürfen Schulen tragen,
die es sich zum Ziel gesetzt haben, den SchülerInnen ein umfassendes Wissen
über Europa zu vermitteln und ihre sprachlichen und interkulturellen
Kompetenzen intensiv zu fördern.
Auf der Heriburg-Homepage wird sogar demonstrativ gesagt:
„Wir leben Europa“!
In Anbetracht der wachsenden Euroskepsis und des erstarkenden
Nationalismus und der um sich greifenden Desintegration in Europa sind m.E. dringend
Menschen gefordert, die „Europa wirklich leben“, die von Europa überzeugt sind.
Wir sollten niemals vergessen, Europa war bislang und ist auch
in Zukunft die Grundlage für Friedens und der wirtschaftlichen Stabilität in
Europa. Ich bin mit den beiden Europa-Befürwortern Pöttering und Schüssel davon
überzeugt, wir dürfen die genannten Werte der EU nicht als Selbstverständlichkeit
betrachten. Populisten stellen nämlich gerade die europäischen Werte und damit
die Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft in Frage.
Der heutige EU-Parlamentspräsident Schulz hat in seiner Europa-Rede
bei der Konrad-Adenauer-Stiftung im vergangenen Jahr zurecht festgestellt: „Frieden
und Freiheit dürfen niemals als selbstverständlich hingenommen werden. Sie
wollen jeden Tag aufs Neue erstritten werden. Das gilt auch für Grenzen, die
wir für überwunden hielten.“
Und weiter: „Es erfordert großen Mut, Grenzen zu öffnen und
Mauern niederzureißen. Lassen wir es nicht zu, dass jetzt
aus Angst neue Grenzen und Mauern errichtet werden.“
Unsere Heimat ist Deutschland; unsere Zukunft liegt aber in
Europa. In einem Europa der Vielfalt, einem Europa der ökonomischen Stärke, in
einem Europa, das die Würde des Menschen achtet, die Freiheit, die Demokratie
und die Rechtsstaatlichkeit garantiert.
Nur ein solches Europa kann gerade für Sie, für die heutige
Abiturienten-Generation eine wirkliche Zukunft der Humanität bietet.
Wie wir aber an der Debatte in Großbritannien aber auch in
vielen anderen EU-Staaten erleben, fällt ein solches Europa der Zukunft nicht
einfach vom Himmel. Ein solches Europa der Zukunft muss von jeder Generation
neu erarbeitet werden.
Sie liebe Heriburger, Sie haben die Grundlagen an dieser
Schule erhalten, um als Generation mit guter Bildung und Ausbildung
noch vorhandene oder neuentstehende Grenzen und Mauern nieder
zu reißen.
Sie sind die Bildungsgeneration, die unser Gemeinwesen in den
nächsten Jahrzehnten prägen wird. Sie und Ihre Generation wird darüber
mitentscheiden, ob unser Europa weiterhin ein Europa der Toleranz, der
Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Humanität sein wird, ob unser Land
weiterhin Teil eines sich vereinigenden Europas sein wird und damit Teil einer
friedlichen Zukunft sein kann.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg auf dem Weg in Ihre Zukunft, in
eine friedliche und erfolgreiche Zukunft in einem geeinten Europa, ich sage Ihren
Eltern herzlichen Dank für die intensive Begleitung Ihres Weges, Ihrem
Lehrerkollegium spreche ich Dank und Anerkennung aus für die engagierte Vermittlung
von Wissen und Bildung.
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