Hilfe zwischen Angst und Zuversicht

26.02.2013

Heinz Öhmann predigt als Laie in der Jakob-Kirche

Ein Jugendlicher wächst auf einem Bauernhof auf und hat dort ganz selbstverständlich mitzuhelfen.  In einem trockenen, heißen Sommer bekommt er (16 Jahre alt) die Aufgabe, mit einem Traktor ein großes Fass Wasser in eine Weide zu bringen, damit die dort grasenden Jungbullen ausreichend mit frischem Wasser versorgt werden.  Als er mit seinem Gefährt mitten in dieser großen Wiese steht, kommt die Bullenherde auf den Traktor zu. Einjährige bis anderthalbjährige Bullen wollen sich gerne beweisen und sind in diesem Alter nicht ungefährlich, wie auch der Jugendliche auf dem Traktor weiß.  Die Tiere machen sich an dem Traktor zu schaffen. Als plötzlich von einem der Bullen an dem großen Reifen des Traktors das Ventil abgerissen wird und die Luft entweicht, weiß der Jugendliche, dass für ihn eine äußerst kritische Situation entstanden ist. In der gleichen Bauerschaft war noch wenige Monate vorher ein benachbarter Landwirt beim Füttern der Tiere im wahrsten Sinne des Wortes auf die Hörner genommen worden und zu Tode gekommen. Ohne weiteres konnte er in dieser Situation die Wiese mit dem Traktor nicht mehr verlassen.  Nach einer gewissen Beobachtung der Jungbullen nimmt er allen Mut zusammen, um eine Entfernung von rund 40 Metern zum Zaun der Weide überwinden zu können. Bei seinem Spurt wird er von den Jungbullen verfolgt. Er erreicht allerdings ohne Schaden den rettenden Zaun. Hinter dem Zaun angelangt, entgleitet ihm ohne bewusst darüber nachzudenken in aller Einsamkeit ganz laut: „Gott sei Dank“. 

Dieser Jugendliche steht hier und heute, vierzig Jahre später vor Ihnen - mit grauem Haar und hoffentlich einigen Lebenserfahrungen bereichert. 

Dieses Erlebnis kam mir in den Sinn als ich die ersten Gedanken fasste zu dieser Predigt unter der Überschrift „Leben zwischen Angst und Zuversicht - Glaube als Hilfe?!“.  Dieses Erlebnis war für mich in gewisser Weise eine existenzielle Erfahrung, in der die Angst durch Gottvertrauen zwar nicht vollständig beseitigt aber begrenzt wurde. In bestimmten Situationen Angst zu haben ist durchaus notwendig, weil Angst ein Grundgefühl ist, welches für den Menschen eine Schutzfunktion hat, die bei tatsächlichen oder vermeintlichen Gefahren ein angemessenes Verhalten einleiten soll.   

Die evangelische Theologin Dorothee Sölle hat 1983 geschrieben: „Geängstigt werden wir an unsere Grenzen getrieben bis zu dem Punkt, wo wir den Sprung in den Glauben wagen ..“.  Ist also der Glaube an Gott die Begrenzung der Angst, führt der Glaube an Gott aus der Angst heraus? Trotz allen Fortschritts, trotz allen Wohlstandes leben wir in einer Zeit, in der ein unvollständiger Kalender der Maya zu Weltuntergangs-Szenarien führt, in der uns die Staatsschuldenkrise zu unkalkulierbaren Reaktionen veranlasst, in der die Krisen-Angst uns zu überwältigen scheint.  

Der Feuilletonist der FAZ Joachim Müller-Jung hat einmal geschrieben: „Die Angst in der Krise, mehr noch als die Angst vor der Krise, hat etwas Zersetzendes.  Sie tendiert, wie Kierkegaard (dänischer Theologe, Philosoph und Schriftsteller) vermutete, zur Angst vor dem Nichts.“  Kierkegaard hat aber dieses Nichts nicht zum weltanschaulichen Nihilismus gemacht, also dieses Nichts nicht zur Verneinung jeglicher Erkenntnis geführt sondern ist zum Glauben gekommen, der später von Tillich als „Mut zum Sein“ gedeutet wurde.   

Mut setzt Angst und Angstüberwindung voraus. Dies ist also der Sprung in den Glauben, den die ev. Theologin Dorothee Sölle  beschrieben hat. Angst scheint also einerseits ein schlechter Ratgeber und andererseits Mut zum Sein, Mut zum Glauben zu bedeuten. Dietrich Bonhoeffer drückt es poetischer aus: Wo die Menschen sagen: verloren – da sagt Er: gefunden! Wo die Menschen sagen: gerichtet! Da sagt Er: gerettet! Wo die Menschen sagen: nein! – da sagt Er: Ja! Hier wird der Gegensatz von Angst und Hoffnung, von Angst und Vertrauen ausgedrückt, die menschliche Angst und die göttliche Hoffnung. Trotz aller Hoffnung auf Gott, trotz allen Vertrauens zu Gott, sind wir doch immer wieder geprägt von Angstmomenten, werden wir bedrängt von der Angst im Alltäglichen.  

In meiner Arbeit als Bürgermeister, in meinem täglichen Wirken erlebe ich das persönlich in unterschiedlichen Situationen; in Situationen der Entscheidungen, in Situationen der Widersprüche, in Situationen der Verantwortung. Eine Entscheidung ist eine Wahl zwischen einer oder mehrerer Alternativen. In Personalfragen hat ein Bürgermeister immer wieder über Menschen und deren beruflichen Entwicklungen zu entscheiden. Auch bei Sachfragen, bei politischen Themen hängen die Entscheidungen eng mit Interessen von Menschen zusammen. Eine Entscheidung sollte rational begründet sein, sollte auf der Grundlage von Zielen getroffen und durch Wertvorstellungen untermauert sein.  Praktisch jede Entscheidung ist bei einer unvollkommenen Informationslage zu treffen, manchmal spricht man auch von „Bauchentscheidungen“. Je kurzfristiger die Entscheidung notwendig, je unvollkommener die Informationslage umso größer das immanente Risiko bei Entscheidungen, eine Fehlentscheidung zu treffen.  Die Komplexität der Themen scheinen immer mehr zu wachsen, dass es kaum möglich ist alle Vor- und Nachteile, alle Für und Wider herauszuarbeiten. Dies kann ein erster Aspekt der Angst in meinem Alltäglichen sein.  Gerade auch wegen der Unvollständigkeit der Informationslage bei Entscheidungen gibt es Widersprüche durch Betroffene oder an der politischen Entscheidung Teilhabende. Unterschiedliche Prognosen über die Entwicklung der Zukunft, die Entwicklung einer Stadt sowie die Vielfalt der Einflüsse seitens der politischen Ebenen, des Wandels der Lebensformen oder der Mitbestimmungsansprüche verkomplizieren die Sachlage und regen zum Widerspruch an. Der in der politischen Diskussion geäußerte Widerspruch kann in der Ernsthaftigkeit der Verantwortungsteilhabe aber auch in der reinen politischen Taktik liegen. Politische Taktik ist weitgehend unkalkulierbar und kann deshalb zu Befürchtungen, zu Ängstlichkeiten im Alltäglichen verleiten.  All dies entlässt den Verantwortlichen nicht aus seiner Verantwortung. 

Bundespräsident Joachim Gauck hat im November in Berlin gesagt: „ Ich wünsche mir, dass wir unsere Vorstellungen von Verantwortung hinterfragen und – wo nötig – Verantwortung überzeugender wahrnehmen, Verantwortung verankern im Hier und Heute. Und dabei die Zukunft mit einkalkulieren! … Wer sie übernimmt, muss bereit sein, sie sofort und nachhaltig zu tragen.“   Welche Verantwortung habe ich als Amtsträger, was heißt für mich Verantwortung wahrnehmen, was heißt die Verantwortung überzeugender wahrnehmen? Ein Bürgermeister trägt die Verantwortung für „seine“ Stadt, für viele Menschen in der Stadt. Verantwortung bedeutet Entscheidungen für oder gegen menschliche Erwartungen zu treffen, bedeutet Menschen auch zu enttäuschen.  Dabei ist mir immer bewusst: Jeder Mensch ist fehlbar; auch ich bin fehlbar. 

Mir ist bewusst, dass ich in der Vergangenheit auch Fehlentscheidungen - zumindest in den Augen Betroffener – fehlerhafte Entscheidungen getroffen habe.  Muss ich also befürchten bei jeder Fehlentscheidung meiner Verantwortung nicht gerecht geworden zu sein? Muss ich mich bei zukünftigen Entscheidungen ängstigen? 

Gerade das christliche Menschenbild geht davon aus, dass der Mensch Irrtum und Schuld ausgesetzt ist, dass der Mensch unvollkommen ist. Im Grundsatzprogramm der Partei, der ich angehöre, steht: „Diese Einsicht bewahrt uns vor ideologischen Heilslehren und einem totalitären Politikverständnis.  Sie schafft Bereitschaft zur Versöhnung.“ Ich möchte ergänzen: Diese Einsicht in die Unvollkommenheit des Menschen drängt zur Bescheidenheit, führt dazu, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen.  Diese Fehlbarkeit gilt für die Person des Bürgermeisters aber auch für all diejenigen etwa 300 Personen, die für diese schöne Stadt Coesfeld arbeiten, für die der Bürgermeister aber die Verantwortung in und vor aller Öffentlichkeit zu tragen hat.  Aber gerade in der Politik soll es manchmal so sein, dass ein Fehler nicht verziehen sondern geradezu ausgekostet wird, jemand wegen eines falschen Wortes, wegen einer unterschiedlich zu interpretierenden Tat, wegen eines Fehlers in seinem Wirken, in seiner Arbeit öffentlich an den Pranger gestellt wird.  Neudeutsch heißt das „Shitstorm“ und hat eine große öffentliche Entrüstung mit unsachlichen Beiträgen insbesondere im Internet zum Inhalt, die vielfach eine sinnvolle Diskussion verhindern. Hiervor – so glaube ich – hat jeder Politiker ein wenig Angst.  Dazu ist dann die Erkenntnis notwendig, dass nicht die Flucht vor der Verantwortung und vor dem so genannten Shitstorm die Lösung ist, sondern eine große Portion Gottvertrauen, die gepaart sein sollte mit Überzeugungskraft, mit dem Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit des Menschen und das selbst bei der Schwierigkeit, die notwendigen Informationen sachlich und überzeugend an die Menschen heran tragen zu können.  Wichtig ist aber immer, dass die Verantwortung ganzheitlich gesehen wird, die mit den Worten von Joachim Gauck im Hier und Heute verankert sein muss und gleichzeitig die Zukunft im Blick hat.  Daraus folgt, dass die Verantwortung auch wahrgenommen werden muss unter Inkaufnahme des Shitstorms, wenn man von der Richtigkeit und Notwendigkeit für die Menschen überzeugt ist.  Das Einstehen für die Entscheidung, für die Verantwortung kann aber gerade in kritischen Situationen einsam machen, kann zum Alleinsein führen, auch wenn viele an der Entscheidung beteiligt waren. Kurt Biedenkopf hat vor Jahren eine wichtige und ich meine richtige Feststellung getroffen: „Im christlichen Glauben weiß der Mensch, daß sein Leben einen Sinn hat, daß er hier seine Aufgabe zu erfüllen hat, daß ihm diese Welt (sic: in meinem Fall diese Stadt) nicht als Schicksal vorgegeben, sondern als Auftrag aufgegeben ist.“   Hieraus folgert er, dass „es an uns liegt, die Welt (ich ergänze: diese Stadt) ein wenig menschlicher zu machen. Wir wissen aber ebenso, daß wir in dieser Welt Vollkommenheit nie werden erreichen können“ . Wir wissen aus der christlichen Soziallehre ebenso, dass jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist. Der Mensch kann sein Personsein nur mit anderen Menschen zusammen verwirklichen.  Jeder von uns und damit auch ich persönlich kann nicht alles allein bewirken sondern nur mit den Mitmenschen. Auch wenn man die Stadt für sich als Auftrag begreift, ist man auf das Mittun anderer angewiesen. Jeder Mensch ist auf Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen angelegt. Das ist Ausfluss der Sozialnatur des Menschen.  Dabei ist die wichtigste Gemeinschaft auch nach christlichem Verständnis die Familie. Sie gibt Rückhalt, sie bietet Orientierung, sie ermöglicht Raum für Überprüfung und Unterstützung. Darüber hinaus ist in der täglichen Arbeit der Bezug zu Menschen des Vertrauens, eine Gemeinschaft mit gleicher Zielsetzung, eine Gemeinschaft des Engagements außerhalb der Familie notwendig. Dabei kann auch eine kirchliche Gemeinschaft eine besondere Orientierung bieten.   

Da der Mensch aber fehlbar ist, kann dieses Vertrauen auch enttäuscht werden. Wer in der ständigen Angst vor einer solchen Enttäuschung arbeitet und lebt, der wird in seinem Leben an Misstrauen scheitern. Also muss noch etwas hinzu kommen. „ An dem Tag, da ich mich fürchten muss, setze ich auf dich mein Vertrauen. Ich preise Gottes Wort. Ich vertraue auf Gott und fürchte mich nicht.“  (Psalm 56,4-5).  Diese Feststellung des Psalmisten möchte ich als das Urvertrauen des Christen bezeichnen.  In der Bergpredigt (Mt. 6,31-33) ist dieses Ur-Vertrauen zu Gott von Jesus selbst uns Menschen erneut an Herz gelegt worden in dem er sagt: „Macht euch (…) keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? …. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.“ Hier liegt für uns Christen ein besonderes Element der Vertrauenskultur und beinhaltet gleichzeitig einen besonderen Auftrag. Ohne das Vertrauen auf Gott, das Gottvertrauen ist jedes andere Vertrauen zu Menschen nur bruchstückhaft, nicht vollständig, nicht auf Dauer angelegt.  Die Haupttugenden des Christentums Glaube, Hoffnung und Liebe geben jedem Christen die notwendige Basis im Leben gemeinsam mit seinen Mitmenschen seinen jeweiligen Auftrag in der Stadt  / in der Welt zu erfüllen. Ich bin mir bewusst, dass ich hier vor Ihnen auf hohem Niveau Klage über meine Angstgefühle, über meine Ängstlichkeiten vorgetragen habe. Diese Ängstlichkeiten sind geringfügig zu den existenziellen Problemen vieler Menschen in Notsituationen, in einer feindlichen Lebenswirklichkeit. Wir leben schließlich in einer Gesellschaft, die materiellen Wohlstand kennt, die Toleranz üben kann, die Demokratie und Freiheit eingeatmet hat. Ganz anders Menschen in totalitären Regimen. 

Dazu ein kleines Erlebnis zum Abschluss, das ich zur Jahreswende in Bad Frankenhausen am Fuße des Kyffhäusergebirges in Thüringen hatte: Dort befindet sich ein monumentales Panoramabild  mit einer Fläche von über 1700 m². Titel des Kunstwerkes: Frühbürgerliche Revolution in Deutschland vom Leipziger Maler und Kunstprofessor Werner Tübke. Das Werk entstand in den Jahren 1976 bis 1987 (in 12 Jahren Arbeit), ursprünglich zum Gedenken an den so genannten Deutschen Bauernkrieg von 1523 bis 1526 und den Bauernführer und Reformator Thomas Müntzer. Offizieller Auftraggeber des Gemäldes war das Kulturministerium der DDR. Der SED-Führung schwebte ein monumentales, heroisierendes Schlachtengemälde in der Tradition der typischen Gigantomanie kommunistischer Heldenverehrung vor.  Der Maler hat ein Werk geschaffen, in dem die Gegensätze von Werden und Vergehen, Unterdrückung und Freiheit, Krieg und Frieden deutlich werden.  

Entstanden ist das Bild in einem politischen System der Unterdrückung, in dem Religionsausübung stark eingeschränkt, ja gar unterdrückt wurde, in dem der Atheismus Staatsreligion war. Das Werk ist aber gerade sehr stark von christlichen Symbolen geprägt. Der Künstler hat es damit in einem totalitären System gewagt der offiziellen Doktrin des Atheismus in künstlerischer Form zu widersprechen. Wenige Wochen nach der Eröffnung zwang das Volk in einer friedlichen Revolution seine Führung (und damit den Auftraggeber des Bildes) dazu, selbst nur noch Geschichte zu sein. Ironie der Geschichte: diese friedliche Revolution entwickelte sich in den Räumen des Glaubens, in den christlichen Kirchen. Mir zeigt dieses Bild, dass wir uns als Christen in dieser Welt einbringen müssen, auch und gerade um den Weg in ein totalitäres Regime welcher Art auch immer nie wieder zuzulassen, um in unserer Gesellschaft die christliche Botschaft trotz aller gesellschaftlicher Widrigkeiten leben zu dürfen und zu können. Denn von Dietrich Bonhoeffer, der im Konzentrationslager eines barbarischen NS-Regimes zu Tode gebracht wurde, wissen wir uns: Von guten Mächten wunderbar geborgen, Erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.  Deshalb: Als Christen dürfen wir Angst haben, dürfen wir ängstlich sein, dürfen wir Furcht haben. Als Christen haben wir aber keinen Anlass, uns von der Angst, von der Furcht überwältigen zu lassen.  Wir haben den Glauben, die Hoffnung und die Liebe an den einen Gott, der uns in den Angstmomenten des Lebens Hilfe und Selbst-Vertrauen gibt und uns auf dem Weg zum rettenden „Zaun“ begleitet.